Tucholsky, Kurt (1890-1935) 


Am 28. Juli 1929 erschien in der Vossischen Zeitung ein Artikel mit der Überschrift "Jonathans Wörterbuch". Er stammte von Kurt Tucholsky, der ihn dort unter seinem bekannten Pseudonym Peter Panter veröffentlicht hatte. 

Worum ging es? Ein freundlicher Leser hatte Tucholsky ein deutsch-französisches Wörterbuch zugeschickt, das es in sich hatte. Dieses Lexikon, schreibt er, "hat mir viele Abende verkürzt". Aber lesen wir selbst, was er darin für sonderbare Wörter entdeckte:

Was ist ›abarten‹? Dégénérer. Gut, aber was ist ›abäschern‹? Was ist ›Abbiß‹? Was: ›abblatten‹? Und tief betroffen liest du weiter. ›Mutzen‹? Können Sie mutzen? Ich kann es nicht, oder doch nur selten. Und was mag das sein: ›Diskretionstags‹? Eher verständlich ist schon ›fragselig‹ und ›erbittlich‹, willkommene Bereicherungen der deutschen Sprache. Auch ›Hausverstand‹ und ›Leichenbuch‹ gehören in jedes Handwörterbuch; von ›Strafengesetz‹ und der ›Facklei‹ schon nicht zu reden. Dann aber wird es bewegter. Nachdem wir noch den ›Bahnzug‹ und die ›Sicherheitsanstalt‹ sowie das ›Seitengespräch‹ genossen haben, erfreuen wir uns an leichten Sprachstörungen der beteiligten Gehirne, die dem Herrn Kandidaten Tallywags geholfen haben auf seiner schweren Fahrt. Er schreibt: »Die großblumische Esche«, was darauf schließen läßt, daß hier ein Kapitän aus der großen Seestadt Frankfurt am Main mitgetan hat; er schreibt die »Schüppe« und der »Kupferstüchsammler«, was richtig ist, weil man ja auch der Schürm und der Mülschreis sagt. Was aber ist eine ›Demutspflanze‹? Das ist eine Mimose.

Soweit das Deutsche. Nun ist da aber noch das Französische, und auch dies will gekonnt sein. »Parquet« heißt ›Spiegelfeld‹, und »profil« natürlich ›Durchschnittsansicht‹; daß aber ›Muff‹ »aboiement sourd«, ein dumpfes Gebell ist . . . das kann man nur nachts um vier Uhr verstehen, wenn der Whisky öliggelb in den Gläsern schaukelt. Man muß eben übersetzen können – und welcher Seemann könnte das nicht! Die helfenden Kapitäne haben ganze Arbeit gemacht. So, wie »sans-culottes« ›Hosenlose‹ heißt, so heißt ›Perlmutter‹ »mère de perles« – das leuchtet ein. Und das wimmelt von ganz alten französischen Wörtern, wie »tépide« für lau; und »portraiture«, was es gibt – sowie »maudissible«, was es nicht gibt, und was ›fluchwürdig‹ heißen soll – unrichtig ist nur »wurst«, was seltsamerweise ein ins Französische übergegangenes Wort ist und ›kleiner Munitionswagen‹ bedeutet. [...] Was um alles in der Welt ist ein ›Hühnerwerter‹?
Was ein ›Leichmann‹ ist, weiß jeder, der es einmal gewesen ist; warum aber ›Gänze‹ nicht nur »tout« heißt, sondern auch »gîte non exploité«, eine nicht ausgenutzte Lage . . . das muß ein guter, alter Whisky gewesen sein, ein alter, guter . . .

Wie man schon sieht: Tucholsky hat um dieses skurrile Wörterbuch (das um 1915 tatsächlich in den Handel gekommen ist!) eine kleine Geschichte erfunden. Der im Buch erscheinende Name sei ein Pseudonym gewesen, in Wirklichkeit habe ein gewisser Jonathan Tallywags aus England das Buch verfaßt:

Der Kandidat der Gottesgelahrtheit Jonathan Tallywags aus der Grafschaft Sussex verbrauchte in seinem ersten Semester allabendlich 1 Gläschen Whisky, in seinem zweiten Semester 1 Glas, in seinem dritten 4 Gläser, in seinem vierten 1 Flasche, in seinem fünften 4 Flaschen, in seinem sechsten nur 5 Flaschen (da war er einem Methodistenprediger in die Hände gefallen); nunmehr stand er in seinem zweiundzwanzigsten Semester und bei einer Gallone Whisky auf den Abend. Es war ein Mann in den besten Jahren.

Und dann schleppt ihn ein Unbekannter aus seiner Kneipe direkt zu einem Verleger, der ihm den Auftrag für das Wörterbuch und einen Vorschuß von vier Pfund gibt.  

An diesem Abend besoff er sich wie eine Segelschiffsmannschaft, die nach zwei Monaten widriger Winde in einem Hafen einläuft. Acht Wochen später war das Lexikon fertig. Tallywags hatte ein paar befreundete Kapitäne konsultiert, die ihrerseits solche Lexika in der Kajüte mit sich führten und sie unter gewaltigem Fluchen heraussuchten – er hatte sich ferner der regen Mitarbeit einer gewissen Kitty Cauliflower zu erfreuen, die ihn in strittigen Fällen liebreich belehrte. [...] Ich wette um die gesammelten Werke eines Akademikers, daß dieses Buch auf keinem andern Wege als auf dem vorbezeichneten zustande gekommen sein kann.

Ich kann hier nur ein paar Zitate wiedergeben - es lohnt sich auf jeden Fall, den Artikel ganz zu lesen! Am Schluß schreibt Tucholsky:

Und mich verfolgt in den schwedischen Nächten, wo es nie ganz dunkel wird und die ganze Erde nachts aufbleiben darf, wie die Kinder, wenn die älteste Schwester heiratet – dann plagt mich eine Frage:

Woher bezieht man solchen wundervollen Whisky –? Ich bin ein alter Hühnerwerter – aber das mutze ich nicht.


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